Ball der Stipendiaten der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit
Der jährliche Ball der Stipendiaten der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit findet in diesem Jahr in München statt.
„Wo kommen Sie denn her – also so richtig?“
Beitrag im „freiraum“, der Zeitschrift der Stipendiatinnen und Stipendiaten der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit
Mein ehemaliger Mitbewohner und sehr guter Freund Rabi kommt aus Kassel. So richtig. Er wurde hier geboren. Er ist in Kassel in die Grundschule gegangen. Er ist gemeinsam mit mir auf das altsprachliche Gymnasium gegangen und hatte im Gegensatz zu mir sogar Altgriechisch. Er hat danach in Göttingen Medizin studiert. Heute ist er promovierter Chirurg.
Es ärgert mich jedes Mal wieder, wenn ich den folgenden Dialog höre. Irgendwie ist er für mich typisch deutsch und spiegelt die verzweifelte Suche nach irgendeiner Schublade wider. Meistens beginnt so ein Gespräch mit einem noch relativ unverfänglichen:
„Und, wo kommen Sie denn her?“
Antwort: „Aus Kassel.“
Frage: „Und so richtig?“
Antwort: „Naja, ich bin in Kassel geboren.“
Frage: „Aber was steht denn in Ihrem Pass?“
Antwort: „Auch Kassel, ist ein deutscher Pass.“
Frage: „Aber wo stammen Sie denn her?“
Mit genügend Elan ließe sich dieser absurde Dialog wohl ins Unendliche fortsetzen. Und warum? Weil Rabi nicht Stefan heißt und vor allem nicht so aussieht wie ein Stefan (um in den Schubladen zu bleiben). Rabis Eltern stammen aus Indien und das sieht man ihm an. Es macht mich wütend wenn ich solche Gespräche höre und üblicherweise sage ich das denjenigen auch. Aber der Drang nach Schubladendenken ist wohl zu groß in unserer Gesellschaft. Irgendwie kommen nur sehr wenige auf die Idee, ihn in die Schublade „Arzt“ oder wahlweise auch „Altsprachler“ oder „Deutscher“ zu stecken, obwohl er dort besser hineinpassen würde – in die letzten beiden wohl noch besser als ich, zumindest ausweislich seiner Latein-/Griechisch- und Deutschnoten zu Schulzeiten.
Eine tolerante Willkommensgesellschaft sollte nicht darauf achten, woher jemand kommt, sondern was er für unsere Gesellschaft bewegen will. Wir sollten offen sein, statt unsere Zeit mit der Suche nach der nächstbesten Schublade zu verschwenden.
Vor kurzem saß ich bei einem Gespräch mit dem Vorstandsvorsitzenden eines großen deutschen Pharmakonzerns. Dieser Konzern hat eine Auslandsniederlassung geschlossen und den betroffenen Mitarbeitern angeboten, entweder nach Deutschland in den Hauptsitz zu wechseln oder in die Außenstelle in den USA. Fast alle haben sich für die USA entschieden. Das ist nur ein Beispiel, aber ich denke es steht für eine Situation, die uns zu denken geben sollte. Es hat wohl weniger mit der Bürokratie zu tun, zumindest meinte das mein Gesprächspartner, sondern mehr mit der fehlenden Willkommenskultur in Deutschland, die unser Bild im Ausland negativ prägt.
Das werden wir nicht durch eine politische Order ändern können. Aber wir können jeden Tag daran arbeiten. Wir müssen Alltagsrassismus entgegentreten, wenn er für uns sichtbar wird.
Im Frühjahr dieses Jahres hatten wir diesbezüglich eine Diskussion über den Umgang mit Philipp Rösler. Zu diesem Thema möchte ich aus einer Mail zitieren, die mich erreicht hat:
„Sehr geehrter Herr Becker,
der „Chinese muss weg“ ist für mich primär nicht rassistisch, sondern ein Gleichnis für das jämmerliche Erscheinungsbild, das Rösler abgibt. […]“
Herzlichen Glückwunsch an den Verfasser – eine bessere Zusammenfassung für Alltagsrassismus dürfte in einem Satz kaum möglich sein. Ich bin auch der Meinung, dass Rösler Fehler gemacht hat. Man kann auch der Meinung sein, dass er kein gutes Erscheinungsbild abgibt. Aber das hat schlicht nichts mit seinem asiatischen (und das Land stimmt noch nicht mal) Geburtsort zu tun.
Aber nicht nur bezüglich der Herkunft und des Aussehens denken wir in Schubladen: Alan Posener hat in der Welt einen spannenden Artikel über die positiven Auswirkungen von Vorhängen für die Qualität von amerikanischen Orchestern geschrieben:
Seitdem die US-amerikanischen Orchester Musiker bei Bewerbungsverfahren hinter einem Vorhang vorspielen lassen sind laut einer Studie aus Princeton die Chancen durch die Vorrunde zu kommen für weibliche Musikerinnen um 50 Prozent und durch die Endrunde zu kommen um 300 Prozent gestiegen. Auch bei Musikern scheint die Schublade „Frau“ wichtiger als die Schublade „musikalisches Talent“ gewesen zu sein.
Vielleicht lässt sich diese Erkenntnis nicht unmittelbar auf andere Bereiche übertragen und ich bin selbst noch zwiegespalten, was zum Beispiel anonyme Bewerbungsverfahren angeht – auch und gerade nach den Bewerbungsverfahren, die ich selbst auf beiden Seiten des Tisches mitgemacht habe. Aber auch ohne staatliche Regelung kann man als Unternehmen durchaus darüber nachdenken und diese Gedanken sollten auch wir nicht einfach aus Reflexen ablehnen und direkt wieder in eine Schublade packen.
Mein letztes Beispiel für Schubladendenken stammt direkt hier aus der Stipendiatenschaft und von den Jungen Liberalen. Viele Stipendiaten sehen die Jungen Liberalen als „arrogante, aber ungebildete Politiker, die von Theorie keine Ahnung haben“ und andererseits sehen manche JuLis die Stipendiaten als diejenigen, die „ohne sich zu engagieren und teilweise ohne liberal zu sein abgehoben reden aber vor allem Geld mitnehmen wollen“. Beide Kommentare hat man mir gegenüber tatsächlich geäußert. Am deutlichsten lässt sich die Schublade mithilfe der Aussage eines Stipendiaten bei einem jugendpolitischen Forum (PPW) der FNF beschreiben, als es um das liberale Grundsatzprogramm ging: „Naja, das ist alles nett hier, aber die Sitzungsleitung hat das Niveau der Naumann-Stipendiatenschaft intellektuell nicht erreicht und die Diskussion hat auch nicht die philosophische Tiefe.“ Die Sitzungsleitung hatten zwei Studienstiftler, im Raum waren bis auf drei oder vier Ausnahmen (mich damals noch eingeschlossen) ausschließlich Stipendiaten oder Altstipendiaten der Naumann-Stiftung (5-6), der Studienstiftung des Deutschen Volkes (3-4) und der SDW (1-2). Einige der Anwesenden haben im Bereich Philosophie oder ähnlichen Fächern promoviert oder wurden gebeten hier zu promovieren. Ich bin mir sicher, dass auch Stipendiaten ähnliche Geschichten mit umgekehrten Vorzeichen über die JuLis berichten könnten. Auch wir sind alle nicht davor gefeit, im Schubladendenken zu verharren.
In manche der beschriebenen Fallen des Schubladendenkens dürfte ich selbst schon einmal gefallen sein. Manchmal braucht man eine Schublade vielleicht zur Vereinfachung, zur Annäherung oder um etwas zu verstehen – aber man darf dann nie abschließen, sondern muss sich ab und an zwingen, den Schreibtisch aufzuräumen. In den allermeisten Fällen schadet das Schubladendenken, es schürt und festigt Vorurteile.
Wir werden dieses Problem nicht mit Verordnungen auflösen können. Um das Schubladendenken zu überwinden, brauchen wir meiner Meinung nach vor allem kritische Selbstreflexion und Ironie, um für Toleranz und Respekt einzutreten. Eine alte Kampagne der Agentur Serviceplan fasste es auf einem Plakat gut zusammen: „Foreign minister gay, chancellor female, health minister Vietnamese… And you think America is the land of opportunity? Come to Germany, land of opportunities!”
Das müssen wir leben und dafür eintreten – bei uns selbst genau wie gegenüber anderen.
Wie kommen wir nach Europa – der Weg hin zur Vision des Europäischen Bundesstaates
Letzte Woche in Brüssel habe ich eine interessante Geschichte eines nordrhein-westfälischen MdEP gehört: Bei einer Abendveranstaltung in NRW fragte einer der Zuhörer: „Wo kommen Sie denn her, aus Brüssel ist es ja immer ein bisschen weiter.“ Auf die Antwort, dass vorher ein Termin in Berlin stattgefunden hätte, kam die Erwiderung: „Ach, dann hatten Sie es ja heute nicht so weit.“
Gefühlt sind knapp zwei Stunden von Köln nach Brüssel (ICE) also länger als die knapp fünf Stunden von Köln nach Berlin (ICE). Wie kommen wir dahin, dass sich das ändert? Und was sind die Wege hin zu unserer Vision der Zukunft Europas. Dazu durfte ich auf Einladung der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in der Hessischen Landesvertretung diskutieren.
Die Vision: Aufwachen in den Föderalen Nationen Europas
Wenn ich träumen darf und dabei in der Zukunft aufwachen würde … wie würde ich mir wünschen, dass dann Europa aussieht?
Aufwachen würde ich dann am liebsten in einer neuen Gemeinschaft, den Föderalen Nationen Europas (ich mag diese ständige Vereinigte Staaten-Analogie nicht).
Das heißt für mich in einer Föderation, bei der jedes Land seine eigenen Besonderheiten in einer föderalen Struktur behalten konnte, gleichzeitig aber wichtige gemeinsame Aufgaben in der Außenvertretung gemeinsam geschultert werden. Dazu gehört klare Subsidiarität und nicht so ein verquaster Föderalismus wie in Deutschland.
Wichtiger als diese Vision ist aber der Weg dorthin, bei dem wir JuLis uns teils ganz konkrete, teils aber auch weniger konkrete Gedanken gemacht haben. Auf dem Podium haben wir gestern länger und kontrovers diskutiert, wie wichtig die Finalitätsdiskussion überhaupt ist. Ich bin überzeugt, dass die Finalitätsfrage nicht alles entscheidet, aber wir eben doch das Ziel festlegen sollten, bevor wir uns entscheiden loszugehen, deshalb finde ich sie im Gegensatz zu Rainer Stinner und Prof. Dr. Ludger Kühnhardt auch nicht vernachlässigbar. Wichtiger ist aber:
Der Weg: Echte Demokratie, mehr Zuständigkeiten, aber auch Rückverlagerung von Zuständigkeiten
Denn nur über das konkrete politische Handeln also den Weg hin zum Bundesstaat können wir gerade junge Menschen wieder für Europa begeistern. Gerade für jüngere Menschen ist es eine solche Selbstverständlichkeit in Frieden zu leben, dass wir diese Errungenschaft Europas gar nicht mehr in gleichem Maße wie unsere Eltern und Großeltern wahrnehmen. Aber spätestens, wenn man das erste Mal wieder ein Visum für die Einreise in ein Land außerhalb Europas braucht und den Pass vorzeigen muss, spürt jeder von uns drastisch: Europa bringt uns – trotz aller Kritik – sehr viel Freiheit jeden Tag.
Damit aber die Akzeptanz der positiven Geschichte Europas weiter bzw. wieder steigt, müssen sich Europa und die Europäische Union schnell demokratisieren: Wir brauchen ein gemeinsames europäisches Wahlsystem für das Europaparlament, bei dem zumindest in einem ersten Schritt ein Teil der Mandate europaweit vergeben wird. Bei den Europawahlen sollten deshalb die Parteien auch gemeinsame europaweite Kampagnen aufbauen, damit die FDP in Deutschland das gleiche Motiv und die gleichen Inhalte in den Mittelpunkt stellt, wie die LibDems im Vereinigten Königreich, Svenska folkpartiet in Finnland oder Italia dei Valori in Italien. Damit würden wir einen ersten Schritt hin zu einer gemeinsamen Öffentlichkeit schaffen. Auf dem Podium wurden auch gemeinsame Polit-Talkshows auf Anregung von Prof. Kühnhardt und Marco Incerti diskutiert. Prinzipiell eine gute Idee, die aber nur funktioniert, wenn man europaweit abgestimmte Programme vertritt.
Daneben sollte aber auch der Rat den Mut finden, sich zu demokratisieren: Langfristig brauchen wir eine zweite Kammer, einen Senat, für das Europaparlament und keine Mischform von Exekutive und Legislative. Zwei Senatoren pro Mitgliedsstaat könnten wesentlich stärker legitimiert die Interessen dort vertreten als ein wildes Konvolut von Fachministern.
Zentral für die Akzeptanz – gerade in der aktuellen Krise – sind aber auch Selbstreflexion und Aufgabenkritik in Brüssel: Gerade als Konsequenz in der Krise brauchen wir einerseits in zentralen Fragen der Haushaltsdisziplin und zum Beispiel auch der Vertretung nach außen mehr Kompetenzen in Europa. Aber auf der anderen Seite sollte die Europäische Union auch endlich den Mut finden, zu sagen, welche Dinge subsidiär bei den Mitgliedsstaaten aufgehoben sind:
Die Agrarpolitik und manche Teil der Regionalförderung würden sicher besser noch nicht mal auf die Nationalstaatsebene, sondern regional zugeordnet werden, geschweige denn in Brüssel zu behandeln sein.
Das sind nur einige sehr grundsätzliche Felder, die man dringend angehen sollte, klar ist für mich aber: Die Frage, mehr oder weniger Europa sollte nicht von Krisenlaunen abhängen, sondern langfristig und überlegt berücksichtigen, was gut ist:
Für Europa und seine Bürger in einer multipolaren Welt.