Verantwortung statt Cancel Culture bei der Richterwahl

In der vergangenen Woche hat es der Bundestag in einem Akt konservativer Cancel Culture nicht geschafft, eine neue Richterin für das Bundesverfassungsgericht zu wählen – trotz Ankündigung des Kanzlers. Eigentlich wäre das eine formal unspektakuläre Aufgabe: Die Fraktionen schlagen eine Kandidatin vor, die fachlich und charakterlich geeignet ist, die demokratischen Fraktionen verständigen sich – und die Wahl erfolgt mit der nötigen Zweidrittelmehrheit. So jedenfalls sieht es unsere Verfassung vor. Stattdessen jedoch wurde die Wahl in einer Mischung aus taktischen Manövern, medialem Getöse und parteipolitischem Kalkül blockiert.

Ich bin kein Jurist. Die fachliche Qualifikation der SPD-Kandidatin kann und möchte ich nicht abschließend bewerten. Ein Freund, der lange selbst im Richterwahlausschuss tätig war, sagte mir, sie sei sicher nicht die beste, die er je erlebt habe – aber qualifiziert und wählbar. Und genau hier liegt das Problem: Es geht bei der Wahl zum Bundesverfassungsgericht nicht um parteipolitische Maximalpositionen oder moralische Gesinnungsprüfungen. Sondern um unabhängige Richterinnen und Richter, die unser Grundgesetz hochhalten – auch dann, wenn wir persönlich nicht jede einzelne ihrer früheren Positionen teilen.

Was mich beunruhigt: Vor einem halben Jahr waren es die Grünen, die einen CDU-Kandidaten für das Bundesverfassungsgericht blockierten. Jetzt trifft es eine SPD-Kandidatin – diesmal durch die CDU/CSU. Die Begründung hinter den Kulissen: Ihre Haltung zu Schwangerschaftsabbrüchen sei „problematisch“, weil sie die Menschenwürde erst ab der Geburt beginnen lasse (wenn man das Zitat wörtlich liest übrigens: vollständig werden lasse). Diese Meinung teile ich zwar persönlich genausowenig, wie die Einschätzung, dass Menschenwürde automatisch ab Zeugung beginne. Aber ich halte es für ebenso falsch, daraus den Anspruch abzuleiten, dass nur Bewerberinnen und Bewerber mit der „richtigen“ Auffassung in dieses Amt gewählt werden dürfen.

Dieses Verhalten folgt einem gefährlichen Muster: Immer öfter werden Kandidatinnen und Kandidaten nicht mehr nach fachlicher Eignung und Integrität, sondern nach moralischer Konformität mit der eigenen Weltsicht beurteilt. Und das betrifft mittlerweile alle politischen Richtungen. Die Grünen haben es vorgemacht, die Union zieht nach. Das Ergebnis ist eine politische Cancel Culture, die nicht nur dem Parlament, sondern auch dem Bundesverfassungsgericht schadet. Ich finde es zumindest lustig, wie jetzt diejenigen, die sonst immer sich über Cancel Culture und die Einschränkung der Meinungsfreiheit beschweren, jetzt auf einmal für Cancel Culture und eine Einschränkung der Meinungsfreiheit sind. Das Ganze erinnert bitter an das von Gordon Repinski wieder zitierte Playbook der AfD.

Zugleich ist es eine bittere Realität, dass es in diesem Bundestag rechnerisch ohnehin keine Zweidrittelmehrheit ohne Stimmen der AfD oder der Linken gibt. Diese Konstellation macht die Suche nach tragfähigen Richterkandidatinnen ohnehin umso schwieriger – und umso wichtiger. Wer in dieser Lage noch zusätzliche ideologische Hürden aufbaut, verschärft das Problem nur weiter.

Cancel Culture bleibt Cancel Culture – egal, ob sie von links oder von rechts ausgeübt wird. Wer die Unabhängigkeit des Bundesverfassungsgerichts sichern will, muss bereit sein, Kandidaten zu akzeptieren, die nicht den eigenen moralischen Vorstellungen in allen Punkten entsprechen. Das gehört zur Demokratie und zum Respekt vor dem Grundgesetz.

Politik braucht in solchen Momenten Verantwortungsbewusstsein und Kompromissfähigkeit. Wer Richterwahlen blockiert, nur um der Gegenseite eins auszuwischen oder um sich moralisch zu profilieren, gefährdet mehr als eine Personalie. Er gefährdet die Funktionsfähigkeit eines der wichtigsten Hüter unserer Verfassung.

Der Bundestag sollte es besser machen. Verantwortung statt Cancel Culture – das sind wir dem Bundesverfassungsgericht und unserer Verfassung schuldig. Und dass der Stil der letzten Woche schlechter als der Stil in der Ampel war, brauchen wir noch nicht mal mehr zu sagen.