• Laden in Jermuk

    Der Tag, an dem wir den Euro nach Jermuk brachten

    Jermuk liegt in Armenien zwischen dem Sewansee und Yerevan. Bekannt ist der Ort für sein Mineralwasser, das man fast im gesamten Kaukasus trinken kann. Es gibt natürlich auch andere Getränke vor Ort. Und für die benötigt man Cash. Aber von Anfang an:

    Das erste Mal waren wir im Jahr 2007 in Jermuk. Einem ehemaligen sowjetischen Luftkurort, in dem gerüchteweise ein paar Jahrzehnte zuvor der Diktator Stalin im ersten Haus am Platz genächtigt hatte. Wir hingegen waren im „First House of Recreation“ einem „sleazy soviet sanatorium“, wie der Lonely Planet die anderen ehemaligen Sanatorien auch nannte, untergebracht. Wir, das war eine Gruppe junger Liberaler, die für die Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit Workshops mit Jugendorganisationen – von AIESEC bis zu den Jugendorganisationen diverser politischer Parteien – gehalten hab, um für demokratische Strukturen zu werben und Fähigkeiten zu schulen.

    Laden in JermukÜblicherweise holten wir uns am ersten Tag für das jeweilige Land die lokale Währung am nächsten Geldautomaten. So hatte es zumindest vorher in Aserbaidschan und Georgien funktioniert und so war zumindest der Plan auch in Jermuk. Nachdem wir keinen Geldautomaten gefunden hatten, fragten wir einen Taxifahrer um Rat. Der bot freundlicherweise an, uns die 40km bis zum nächsten Geldautomat zu fahren, was wir aber höflich ablehnten. Ein Blick in unsere Geldbörsen ergab, dass wir nur noch eine sehr begrenzte Menge US-Dollar dabei hatten, aber noch genügend Euro.

    Also ging es in einen Minimarket/Tante-Emma-Laden mit grandios guten Oliven, an die sich der aktuelle JuLi-Bundesvorsitzende wahrscheinlich noch heute freudig zurückerinnern wird. Dort versuchten wir den Ladenbesitzer zu überzeugen, diese komischen Banknoten mit dem € drauf zu akzeptieren. Dank der Übersetzungsleistung einer armenischen Freundin tat er das dann auch, wenn auch skeptisch und etwas widerwillig. Gekauft wurden ein Kasten Bier, ein paar Softdrinks, ein wenig Wodka und viele Oliven. Der Gegenwert in Euro war bei normalen Wechselkurs so gering, dass wir dem Händler einen verdammt guten Euro-Kurs gemacht haben.

    Als wir am nächsten Tag wieder kamen, hatte er zwischendrin wohl geprüft, was diese komische bunte neue Währung wert war und war mit unserem Wechselkurs mehr als zufrieden. Wir haben in der Woche noch drei Mal bei ihm eingekauft und am letzten Tag verabschiedete er uns, in dem er uns ein „langes und gesegnetes Leben“ wünschte.

    So haben junge Liberale den Euro nach Jermuk gebracht, nachdem wir einen Umweg fahren mussten, um nicht in die rituelle Aufrechterhaltung des Krieges zwischen Aserbaidschan und Armenien zu kommen. Das ist allerdings – genau wie die Granathülsen auf dem Parkplatz unseres Autos in Gori – eine andere Geschichte.

     

    In loser Folge möchte ich über kuriose und besondere Momente (positiv wie negativ) in inzwischen fast 20 Jahren Politik berichten. Beginnen möchte ich mit einer der witzigeren Geschichten aus dem Jahr 2001. Spoiler: Es wird eine „Opa-erzählt-vom-Krieg“-Geschichte, aber das dürfte in dieser Rubrik fast immer der Fall sein.

  • Hydraulic Fracturing – Chancen und Risiken in Deutschland und Europa

    Aktuell wird das sogenannte „Fracking“, korrekter Hydraulic Fracturing, durch die Gesetzesinitiative der Bundesregierung wieder stärker öffentlich diskutiert. Im vergangenen Herbst hatte ich die Möglichkeit auf Einladung der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in die USA zu reisen und dort einerseits in Washington D.C. mit Think Tanks der Regierung, Vertretern der Wirtschaft, Umweltverbänden, aber auch mit Mitarbeitern aus dem Kongress dieses Thema im Rahmen einer Diskussionsreise zu diskutieren und die Orte des Geschehens mir anzuschauen (das Bild zeigt ein Fracking-Pad in Pennsylvania im normalen Produktionsbetrieb). Dr. Dennis Schmidt-Bordemann hat hierzu bereits einen umfassenden Bericht verfasst, der einen detaillierten Überblick über die Diskussionen in den USA gibt. Weiterhin gibt es von unserem Gesprächspartner Congressman Tim Murphy auch einen Gastbeitrag im Tagesspiegel zum Thema. Ich möchte hier – mit Blick auf die Diskussion in Deutschland und Europa noch einige Details (sowie meine persönliche Meinung) ergänzen und kurz zusammenfassen:

    Die Fakten in den USA

    Die USA sind durch unkonventionelle Gasgewinnung vom Erdgasimporteur zum Erdgasexporteur geworden. Verglichen mit Deutschland findet das Hydraulic Fracturing in erheblich weniger dicht besiedeltem Raum statt – selbst das besuchte Gebiet in Pennsylvania ist weniger dicht besiedelt als viele Teile Deutschlands.

    Weder sind ständig brennende Bohrtürme zu sehen, noch kommt es zu brennenden Wasserhähnen aufgrund der unkonventionellen Gasförderung.

    Stattdessen werden insbesondere durch hohes Aufkommen von LKWs zur Wasserentsorgung im ländlichen Raum und Lärmbelästigungen in der Bohrphase (einige Monate) höhere Belastungen für die Bevölkerung festgestellt.

    Die Bevölkerung profitiert andererseits auch direkt davon, da die Förderrechte in den USA dem Grundbesitzer gehören und hieraus erhebliche Einnahmen sowohl für die Besitzer der Production-Pads als auch auch für die Besitzer der Ländereien, unter denen horizontale Förderungen liegen, resultieren. In einzelnen Bundesstaaten gibt es gesetzliche Regelungen, dass darüber hinaus die staatlichen Einnahmen nach einem festen Schlüssel den Regionen der Förderung und dem Bundesstaat zufließen.

    Städte wie Pittsburgh, die einen erheblichen Bevölkerungsrückgang zu verkraften hatten, konnten diesen Trend umkehren und sind in den letzten Jahren wieder gewachsen, bzw. nahezu geboomt.

    Auch bei alternativen unkonventionellen Methoden der Ölförderung zeigt sich ein ähnliches Bild. Aufgrund höherer Kosten erreicht dies jedoch seltener die Wirtschaftlichkeitsgrenze. Anzumerken ist, dass unsere Gespräche bei einem etwas höheren Öl-/Gaspreis stattgefunden haben. Die OPEC hält aktuell ihre Förderquoten auch hoch, um die Konkurrenzfähigkeit unkonventioneller Förderung in den USA zu verringern.

    Die Fakten in Deutschland

    In Deutschland findet Gasgewinnung schon heute vor allem in Teilen Niedersachsens und Nordrhein-Westfalens konventionell statt. Diese Gebiete gehören r nicht alle zu den am stärksten verdichteten Räumen Deutschlands, sind aber erheblich dichter besiedelt als die besichtigten Gegenden in den USA:

    Die Bevölkerung würde in Deutschland nicht direkt von der Förderung profitieren, da die unterirdischen Förderrechte bei uns nicht den Grundbesitzern gehören. Stattdessen würden die jeweiligen Gemeinden der Produktionsstätten – also nicht alle Gemeinden unter denen ein Rohr verläuft – über die Gewerbesteuer profitieren. Indirekt würden hierdurch auch Kreise, Länder und der Bund profitieren.

    Die in Deutschland angedachten Regionen in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen sind stark landwirtschaftlich geprägt.

    Der subjektive Eindruck in den USA

    In den USA freut man sich darüber, dass Regionen, die bisher abgehängt waren, wieder boomen. Gleichzeitig wurde (zumindest anfangs) der Shale Gas Boom auch von den Umweltverbänden größtenteils begrüßt, da durch ihn die erheblich dreckigere Kohleenergiegewinnung verdrängt wurde.

    Dieser Trend hat sich in letzter Zeit umgekehrt, da die hohe Wettbewerbsfähigkeit unkonventioneller Gasförderung in den USA teils auch spürbar zu Lasten eines stärkeren Umstiegs auf erneuerbare Energien ging. Im Gegensatz zu diesem ist sie jedoch grundlastfähig.

    Vor Ort wurden die erheblichen Belastungen in der Bohrungsphase sowie die Belastungen durch nicht ans Rohrsystem angeschlossene Produktionsstätten besonders benannt: Dies kann bis zu 80 tägliche Fahrten von Tanklastzügen zur Entsorgung des Abwassers nötig machen, was gerade im ländlichen Raum ungewohnt war.

    Die einzelnen Personen und Unternehmen in den Regionen stellen positive Aspekte wesentlich stärker in den Mittelpunkt: Für einen älteren Herrn hat die Linzenzgebühr eine komplette Rente ermöglicht (ehemaliger Landwirt, der nur noch einige Acres besitzt, aber für eine darunter verlaufende Bohrstrecke mehrere Millionen erhielt) oder wird mittelfristig den defizitären Flughafen von Pittsburgh finanziert.

    Wirtschaftlich rentierte sich die Produktion zumindest bei den Öl- und Gaspreisen im Spätherbst 2014.

    Der subjektive Eindruck in Deutschland

    In Deutschland gibt es kaum jemanden, der Hydraulic Fracturing nicht kritisch sieht, meist aufgrund vermeintlich drohender brennender Wasserhähne oder der Bohrtürme in der Nähe. Beides konnten wir in den USA nicht antreffen.

    Über die Erfahrungen der Belastungen durch LKW-Verkehr wird in Deutschland weniger diskutiert, wobei dieser auch wegen der dichteren Infrastruktur (für Abwasserleitungen) weniger problematisch sein dürfte.

    Das komplette System der privaten Anreize entfällt in Deutschland.

    Bei Gesprächen mit Finanzinstitutionen wurde eine relativ hohe Skepsis zur Rentabilität von entsprechenden Projekten in Deutschland deutlich. Generell ist eine Einschätzung aufgrund der fehlenden exakten Informationen über Lagerstätten in Deutschland kaum möglich.

    In anderen (insbesondere osteuropäischen) Ländern wird erheblich höhere Rentabilität erwartet.

    Rahmen in den USA

    Die Gesetzgebung für die umweltpolitischen Rahmenbedingungen in den USA liegt auf Ebene der Bundesstaaten. Es ist politisch mehr als unwahrscheinlich, dass sich dies mittel- oder langfristig ändern wird.

    Deshalb gibt es auf Bundesebene vor allem Initiativen von Think Tanks, Stiftungen und Unternehmen, um für mehr Transparenz zu sorgen: Informationsplattformen werden hierzu aktuell erstellt.

    Die Regelungen in den Bundesstaaten sind sehr unterschiedlich und verglichen mit deutschen Umwelt- und Wasserschutzstandards wohl meist als niedrig einzustufen.

    Gleichzeitig gibt es aber einen Trend, dass es zu höheren Umweltstandards durch Absprachen und Zertifizierungen kommt. So führt das Center for Sustainable Shale Development in Pittsburgh einen erheblich weiter gehenden Umweltstandard ein, für den sich aktuell mehrere Firmen zertifizieren lassen. Dieser Standard wurde gemeinsam von Umweltverbänden (u.a. Environmental Defense Fund), Produzenten (z.B. Consol Energy) und unabhängigen Wissenschaftlern (z.B. emeritierte Präsidenten hochangesehener Universitäten) entwickelt und implementiert.

    Übrigens setzt sich die zur Förderung genutzte Flüssigkeit zu 99,5 Prozent aus Wasser und Sand zusammen (weil in Deutschland häufig von einer Mischung aus Chemikalien gesprochen wird). Nur der kleine Rest sind Chemikalien, die jedoch aufgrund eines hohen Wasserbedarfs immer noch zu hohen Gesamtmengen führen. Weshalb im Zertifizierungsprozess z.B. dem Wasserrecycling eine besondere Bedeutung zukommt. Hier wurden die Zielvorgaben in der Vergangenheit in den USA teils sogar übererfüllt.

    Rahmen in Deutschland

    In Deutschland sind zentrale Fragen der Umweltpolitik auf Bundesebene gebündelt, so dass hieraus sich die aktuelle Diskussion auf Bundesebene ergibt.

    Gleichzeitig haben die Bundesländer jedoch insbesondere im Bergrecht auch heute noch starke Einflussmöglichkeiten, so dass z.B. in Niedersachsen konventionelle Fördermethoden lange angewendet wurden und werden.

    Private Initiativen zur Zertifizierung oder auch zur Definition von Informationsstandards in einer Branche sind in Deutschland unüblich.

    Zusammenfassende Bewertung

    Meine persönliche sowohl auf Fakten als auch auf eigenen Eindrücken beruhende Bewertung lautet: Hydraulic Fracturing wird sich in Deutschland wohl nicht durchsetzen. Das liegt meiner Einschätzung nach daran, dass die vermuteten Vorkommen vor allem in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen in den falschen Gebieten liegen. In Mecklenburg-Vorpommern oder in Brandenburg im weniger dicht besiedelten und ärmeren Raum sähe die Bewertung wohl anders aus.

    Insgesamt scheint mir die Hysterie und Ablehnung in Deutschland insofern massiv übertrieben, als sie die wahren Belastungen wie die LKW-Transporte eher ignoriert und stattdessen vollkommen abstruse Bilder von brennenden Gas- und Ölfeldern in den Raum stellt – zumindest durfte ich dies bei einer Bürgerinitiative einmal erleben.

    Vor allem haben mich aber die kritischen Aussagen zur Menge der Lager in Deutschland ebenso wie zur Rentabilität skeptisch werden lassen, sodass zu hinterfragen ist, ob sich das Verfahren in Deutschland überhaupt lohnen kann, wobei hierzu wohl weitere wissenschaftliche Untersuchungen notwendig und sinnvoll wären.

    Geopolitisch hingegen halte ich Hydraulic Fracturing für eine spannende Option und glaube auch, dass sich dies in anderen Teilen Europas, die weniger besiedelt sind und auch noch andere Infrastrukturen vorhalten (z.B. Baltikum oder Polen) durchaus durchsetzen und unseren Energiemix verbessern könnte:

    Wir brauchen grundlastfähige Energie und Gas ist so lange die sauberere Alternative zur Kohle, bis wir mit Speichertechnologien wirklich noch stärker erneuerbare Energien nutzen können. Außerdem ist geopolitisch auch eine größere Unabhängigkeit von Russland mehr als attraktiv.


     

    Bilder der Reise gibt es hier in meinem Flickr-Account

  • Ball der Stipendiaten der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit

    Der jährliche Ball der Stipendiaten der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit findet in diesem Jahr in München statt.

  • „Wo kommen Sie denn her – also so richtig?“

    Beitrag im „freiraum“, der Zeitschrift der Stipendiatinnen und Stipendiaten der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit

    Mein ehemaliger Mitbewohby Maryanne Rodriguezner und sehr guter Freund Rabi kommt aus Kassel. So richtig. Er wurde hier geboren. Er ist in Kassel in die Grundschule gegangen. Er ist gemeinsam mit mir auf das altsprachliche Gymnasium gegangen und hatte im Gegensatz zu mir sogar Altgriechisch. Er hat danach in Göttingen Medizin studiert. Heute ist er promovierter Chirurg.

    Es ärgert mich jedes Mal wieder, wenn ich den folgenden Dialog höre. Irgendwie ist er für mich typisch deutsch und spiegelt die verzweifelte Suche nach irgendeiner Schublade wider. Meistens beginnt so ein Gespräch mit einem noch relativ unverfänglichen:

    „Und, wo kommen Sie denn her?“
    Antwort: „Aus Kassel.“
    Frage: „Und so richtig?“
    Antwort: „Naja, ich bin in Kassel geboren.“
    Frage: „Aber was steht denn in Ihrem Pass?“
    Antwort: „Auch Kassel, ist ein deutscher Pass.“
    Frage: „Aber wo stammen Sie denn her?“

    Mit genügend Elan ließe sich dieser absurde Dialog wohl ins Unendliche fortsetzen. Und warum? Weil Rabi nicht Stefan heißt und vor allem nicht so aussieht wie ein Stefan (um in den Schubladen zu bleiben). Rabis Eltern stammen aus Indien und das sieht man ihm an. Es macht mich wütend wenn ich solche Gespräche höre und üblicherweise sage ich das denjenigen auch. Aber der Drang nach Schubladendenken ist wohl zu groß in unserer Gesellschaft. Irgendwie kommen nur sehr wenige auf die Idee, ihn in die Schublade „Arzt“ oder wahlweise auch „Altsprachler“ oder „Deutscher“ zu stecken, obwohl er dort besser hineinpassen würde – in die letzten beiden wohl noch besser als ich, zumindest ausweislich seiner Latein-/Griechisch- und Deutschnoten zu Schulzeiten.

    Eine tolerante Willkommensgesellschaft sollte nicht darauf achten, woher jemand kommt, sondern was er für unsere Gesellschaft bewegen will. Wir sollten offen sein, statt unsere Zeit mit der Suche nach der nächstbesten Schublade zu verschwenden.
    Vor kurzem saß ich bei einem Gespräch mit dem Vorstandsvorsitzenden eines großen deutschen Pharmakonzerns. Dieser Konzern hat eine Auslandsniederlassung geschlossen und den betroffenen Mitarbeitern angeboten, entweder nach Deutschland in den Hauptsitz zu wechseln oder in die Außenstelle in den USA. Fast alle haben sich für die USA entschieden. Das ist nur ein Beispiel, aber ich denke es steht für eine Situation, die uns zu denken geben sollte. Es hat wohl weniger mit der Bürokratie zu tun, zumindest meinte das mein Gesprächspartner, sondern mehr mit der fehlenden Willkommenskultur in Deutschland, die unser Bild im Ausland negativ prägt.

    Das werden wir nicht durch eine politische Order ändern können. Aber wir können jeden Tag daran arbeiten. Wir müssen Alltagsrassismus entgegentreten, wenn er für uns sichtbar wird.
    Im Frühjahr dieses Jahres hatten wir diesbezüglich  eine Diskussion  über den Umgang mit Philipp Rösler. Zu diesem Thema möchte ich aus einer Mail zitieren, die mich erreicht hat:

    „Sehr geehrter Herr Becker,

    der „Chinese muss weg“ ist für mich primär nicht rassistisch, sondern ein Gleichnis für das jämmerliche Erscheinungsbild, das Rösler abgibt. […]“

    Herzlichen Glückwunsch an den Verfasser – eine bessere Zusammenfassung für Alltagsrassismus dürfte in einem Satz kaum möglich sein. Ich bin auch der Meinung, dass Rösler Fehler gemacht hat. Man kann auch der Meinung sein, dass er kein gutes Erscheinungsbild abgibt. Aber das hat schlicht nichts mit seinem asiatischen (und das Land stimmt noch nicht mal) Geburtsort zu tun.

    Aber nicht nur bezüglich der Herkunft und des Aussehens denken wir in Schubladen: Alan Posener hat in der Welt einen spannenden Artikel über die positiven Auswirkungen von Vorhängen für die Qualität von amerikanischen Orchestern geschrieben:

    Seitdem die US-amerikanischen Orchester Musiker bei Bewerbungsverfahren hinter einem Vorhang vorspielen lassen sind laut einer Studie aus Princeton die Chancen durch die Vorrunde zu kommen für weibliche Musikerinnen um 50 Prozent und durch die Endrunde zu kommen um 300 Prozent gestiegen. Auch bei Musikern scheint die Schublade „Frau“ wichtiger als die Schublade „musikalisches Talent“ gewesen zu sein.

    Vielleicht lässt sich diese Erkenntnis nicht unmittelbar auf andere Bereiche übertragen und ich bin selbst noch zwiegespalten, was zum Beispiel anonyme Bewerbungsverfahren angeht – auch und gerade nach den Bewerbungsverfahren, die ich selbst  auf beiden Seiten des Tisches mitgemacht habe. Aber auch ohne staatliche Regelung kann man als Unternehmen durchaus darüber nachdenken und diese Gedanken sollten auch wir nicht einfach aus Reflexen  ablehnen und direkt wieder in eine Schublade packen.

    Mein letztes Beispiel für Schubladendenken stammt direkt hier aus der Stipendiatenschaft und von den Jungen Liberalen. Viele Stipendiaten sehen die Jungen Liberalen als „arrogante, aber ungebildete Politiker, die von Theorie keine Ahnung haben“ und andererseits sehen manche JuLis die Stipendiaten als diejenigen, die „ohne sich zu engagieren und teilweise ohne liberal zu sein abgehoben reden aber vor allem Geld mitnehmen wollen“. Beide Kommentare hat man mir gegenüber tatsächlich geäußert. Am  deutlichsten lässt sich die Schublade mithilfe der Aussage eines Stipendiaten bei einem jugendpolitischen Forum (PPW) der FNF beschreiben, als es um das liberale Grundsatzprogramm ging: „Naja, das ist alles nett hier, aber die Sitzungsleitung hat das Niveau der Naumann-Stipendiatenschaft intellektuell nicht erreicht und die Diskussion hat auch nicht die philosophische Tiefe.“ Die Sitzungsleitung hatten zwei Studienstiftler, im Raum waren bis auf drei oder vier Ausnahmen (mich damals noch eingeschlossen) ausschließlich Stipendiaten oder Altstipendiaten der Naumann-Stiftung (5-6), der Studienstiftung des Deutschen Volkes (3-4) und der SDW (1-2). Einige der Anwesenden haben im Bereich Philosophie oder ähnlichen Fächern promoviert oder wurden gebeten hier zu promovieren. Ich bin mir sicher, dass auch Stipendiaten ähnliche Geschichten mit umgekehrten Vorzeichen über die JuLis berichten könnten. Auch wir sind alle nicht davor gefeit, im Schubladendenken zu verharren.

    germany-land-of-opportunitiesIn manche der beschriebenen Fallen des Schubladendenkens dürfte ich selbst schon einmal gefallen sein. Manchmal braucht man eine Schublade vielleicht zur Vereinfachung, zur Annäherung oder um etwas zu verstehen –  aber man darf dann nie abschließen, sondern muss sich ab und an zwingen, den Schreibtisch aufzuräumen. In den allermeisten Fällen schadet das Schubladendenken, es schürt und festigt Vorurteile.

    Wir werden dieses Problem nicht mit Verordnungen  auflösen können. Um das Schubladendenken zu überwinden, brauchen wir meiner Meinung nach vor allem kritische Selbstreflexion und Ironie, um für Toleranz und Respekt einzutreten. Eine alte Kampagne der Agentur Serviceplan fasste es  auf einem Plakat gut zusammen: „Foreign minister gay, chancellor female, health minister Vietnamese… And you think America is the land of opportunity? Come to Germany, land of opportunities!”

    Das müssen wir leben und dafür eintreten – bei uns selbst genau wie gegenüber anderen.

  • Wie kommen wir nach Europa – der Weg hin zur Vision des Europäischen Bundesstaates

    Baustelle Europa

    Letzte Woche in Brüssel habe ich eine interessante Geschichte eines nordrhein-westfälischen MdEP gehört: Bei einer Abendveranstaltung in NRW fragte einer der Zuhörer: „Wo kommen Sie denn her, aus Brüssel ist es ja immer ein bisschen weiter.“ Auf die Antwort, dass vorher ein Termin in Berlin stattgefunden hätte, kam die Erwiderung: „Ach, dann hatten Sie es ja heute nicht so weit.“

    Gefühlt sind knapp zwei Stunden von Köln nach Brüssel (ICE) also länger als die knapp fünf Stunden von Köln nach Berlin (ICE). Wie kommen wir dahin, dass sich das ändert? Und was sind die Wege hin zu unserer Vision der Zukunft Europas. Dazu durfte ich auf Einladung der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in der Hessischen Landesvertretung diskutieren.

    Die Vision: Aufwachen in den Föderalen Nationen Europas

    Wenn ich träumen darf und dabei in der Zukunft aufwachen würde … wie würde ich mir wünschen, dass dann Europa aussieht?

    Aufwachen würde ich dann am liebsten in einer neuen Gemeinschaft, den Föderalen Nationen Europas (ich mag diese ständige Vereinigte Staaten-Analogie nicht).

    Das heißt für mich in einer Föderation, bei der jedes Land seine eigenen Besonderheiten in einer föderalen Struktur behalten konnte, gleichzeitig aber wichtige gemeinsame Aufgaben in der Außenvertretung gemeinsam geschultert werden. Dazu gehört klare Subsidiarität und nicht so ein verquaster Föderalismus wie in Deutschland.

    Wichtiger als diese Vision ist aber der Weg dorthin, bei dem wir JuLis uns teils ganz konkrete, teils aber auch weniger konkrete Gedanken gemacht haben. Auf dem Podium haben wir gestern länger und kontrovers diskutiert, wie wichtig die Finalitätsdiskussion überhaupt ist. Ich bin überzeugt, dass die Finalitätsfrage nicht alles entscheidet, aber wir eben doch das Ziel festlegen sollten, bevor wir uns entscheiden loszugehen, deshalb finde ich sie im Gegensatz zu Rainer Stinner und Prof. Dr. Ludger Kühnhardt auch nicht vernachlässigbar. Wichtiger ist aber:

    Der Weg: Echte Demokratie, mehr Zuständigkeiten, aber auch Rückverlagerung von Zuständigkeiten

    Denn nur über das konkrete politische Handeln also den Weg hin zum Bundesstaat können wir gerade junge Menschen wieder für Europa begeistern. Gerade für jüngere Menschen ist es eine solche Selbstverständlichkeit in Frieden zu leben, dass wir diese Errungenschaft Europas gar nicht mehr in gleichem Maße wie unsere Eltern und Großeltern wahrnehmen. Aber spätestens, wenn man das erste Mal wieder ein Visum für die Einreise in ein Land außerhalb Europas braucht und den Pass vorzeigen muss, spürt jeder von uns drastisch: Europa bringt uns – trotz aller Kritik – sehr viel Freiheit jeden Tag.

    Während der Diskussion in der Hessischen Landesvertretung

    Während der Diskussionsrunde auf Einladung der Naumann-Stiftung in Brüssel

    Damit aber die Akzeptanz der positiven Geschichte Europas weiter bzw. wieder steigt, müssen sich Europa und die Europäische Union schnell demokratisieren: Wir brauchen ein gemeinsames europäisches Wahlsystem für das Europaparlament, bei dem zumindest in einem ersten Schritt ein Teil der Mandate europaweit vergeben wird. Bei den Europawahlen sollten deshalb die Parteien auch gemeinsame europaweite Kampagnen aufbauen, damit die FDP in Deutschland das gleiche Motiv und die gleichen Inhalte in den Mittelpunkt stellt, wie die LibDems im Vereinigten Königreich, Svenska folkpartiet in Finnland oder Italia dei Valori in Italien. Damit würden wir einen ersten Schritt hin zu einer gemeinsamen Öffentlichkeit schaffen. Auf dem Podium wurden auch gemeinsame Polit-Talkshows auf Anregung von Prof. Kühnhardt und Marco Incerti diskutiert. Prinzipiell eine gute Idee, die aber nur funktioniert, wenn man europaweit abgestimmte Programme vertritt.

    Daneben sollte aber auch der Rat den Mut finden, sich zu demokratisieren: Langfristig brauchen wir eine zweite Kammer, einen Senat, für das Europaparlament und keine Mischform von Exekutive und Legislative. Zwei Senatoren pro Mitgliedsstaat könnten wesentlich stärker legitimiert die Interessen dort vertreten als ein wildes Konvolut von Fachministern.

    Zentral für die Akzeptanz – gerade in der aktuellen Krise – sind aber auch Selbstreflexion und Aufgabenkritik in Brüssel: Gerade als Konsequenz in der Krise brauchen wir einerseits in zentralen Fragen der Haushaltsdisziplin und zum Beispiel auch der Vertretung nach außen mehr Kompetenzen in Europa. Aber auf der anderen Seite sollte die Europäische Union auch endlich den Mut finden, zu sagen, welche Dinge subsidiär bei den Mitgliedsstaaten aufgehoben sind:

    Die Agrarpolitik und manche Teil der Regionalförderung würden sicher besser noch nicht mal auf die Nationalstaatsebene, sondern regional zugeordnet werden, geschweige denn in Brüssel zu behandeln sein.

    Das sind nur einige sehr grundsätzliche Felder, die man dringend angehen sollte, klar ist für mich aber: Die Frage, mehr oder weniger Europa sollte nicht von Krisenlaunen abhängen, sondern langfristig und überlegt berücksichtigen, was gut ist:

    Für Europa und seine Bürger in einer multipolaren Welt.