Für mehr Weitblick – Lockerung und Impfpflicht bei Covid-19

Aus meiner Sicht bleibt eine – gegebenenfalls gestufte – Impfpflicht ein immer noch sinnvoller und notwendiger Schritt.

Ich kann verstehen, warum es Bundestagsabgeordneten schwerfällt, sich gerade für eine Impfpflicht zu positionieren:

Ja, die Intensivstationen laufen bei einer milderen Form wie Omikron nicht mehr so in die Überlastung. Das bestätigen einem sowohl die offiziellen Zahlen als auch die anekdotische Rückmeldung von Medizinern im Intensivbereich. Aber: Das liegt an unserer erhöhten Impfquote. Es gab schon länger Studien, die zeigen, dass Omikron zwar ungefährlicher als die Delta-Variante, aber gefährlicher als die Alpha-Variante ist.

Was der Wildtyp noch vor Alpha ohne eine zu zwei Dritteln durchgeimpfte Bevölkerung in Krankenhäusern gemacht hat, wissen wir noch – und sei es aus den Nachrichten in Italien.

Und auch die Argumentation, dass ein Virus ja nie in eine gefährlichere und todbringendere Variante mutiert, scheint mir eher dünn: Warum gab es denn dann Delta nach Alpha bzw. dem Wildtyp?

Insgesamt verstehe ich, wie vollkommen unsachliche Äußerungen auf beiden Seiten (genannt seien mal der unterstellte Wunsch nach „Rache“ von Wolfgang Kubicki und die blödsinnige Begründung einer Impfpflicht mit „jetzt sind die mal dran“ von Hendrik Wüst) und die Hoffnung auf einen endemischen Zustand die Gewissensfrage für Abgeordnete nicht leichter machen.

Für mich lautet hierzu die erste Frage:

Brauchen wir grundsätzlich in bestimmten Fällen eine Impfpflicht – unabhängig von Covid-19 –, auch wenn Sie ein heftiger Eingriff in die Freiheit des Einzelnen ist?

Diese Frage habe ich persönlich – ebenso wie meine Partei die FDP – vor ein paar Jahren bei einem Bundesparteitag zur Masern-Impfpflicht bejaht. Aus guten Gründen: Impfen schützt, und schützt vor allem diejenigen, die sich nicht impfen lassen können. Und selbst bei Impfungen ohne sterile Immunität schützt man so das Gesundheitssystem vor der Überlastung – das zeigt der Vergleich zwischen der Situation bei Wildtyp/Alpha ohne Impfung und heute mit Impfung. Gerade der Schutz auch vulnerabler Gruppen ist bei jeder Impfung hier zu berücksichtigen, da so zumindest die Virenlast reduziert wird. Hierzu empfehle ich auch aus den Debatten die Information zu sogenannten Schattenfamilien, die wegen Vorbelastungen momentan gar nicht nicht mehr raus können.

Dann schließt sich die zweite Frage danach an:

Brauchen wir eine Impfpflicht für Covid-19?

Diese Frage ist schon schwieriger. Einerseits gab es selten eine Impfung, über die wir so viele Daten hatten, andererseits hat sich die Situation mit Omikron für viele wirklich entschärft. Nur am Ende eben nicht für alle: Wir sehen immer noch in den vulnerablen Gruppen eine erhöhte Letalität und Krankenhausbelastung – vor allem bei Ungeimpften. Da kann man jetzt sagen, das sei privates Lebensrisiko. Aber diejenigen sorgen– auch im Moment noch – dafür, dass Patienten mit anderen schweren Krankheiten wie z.B. Krebs viel größeren Risiken ausgesetzt sind, da planbare Operationen aufgrund der hohen Belastungen in den Krankenhäusern verschoben werden. Es besteht (wenn auch wohl nur relativ direkt nach der Impfung) ja auch ein erhöhter Schutz für andere und auch später nimmt die übertragene Virenlast nach Studien ab. Darüber hinaus sind eben doch die Intensivbetten so ausgelastet, dass geplante – auch Tumor-OPs – abgesagt wurden. Deshalb kann man aber aus meiner Sicht durchaus rechtfertigen, dass eine Impfpflicht sinnvoll und auch verglichen mit den Einschränkungen anderer durch die schlechtere Gesundheitsversorgung verhältnismäßig ist. Diese unsichtbare Triage ist auch für den Ethikrat ein Grund, warum er sich für eine Impfpflicht im Dezember 2021 geöffnet hat.

Daran anknüpfend kommt dann die schwierigste Frage:

Was für eine Impfpflicht brauchen wir?

Ein befreundeter (und voll durchgeimpfter) Mediziner drückte sich mit seiner Ablehnung einer nur aufs medizinische Personal beschränkten Impfpflicht mal mir gegenüber so aus:

„Lasse, es ist doch scheiße, wenn wir in der Pflege mal wieder ausbaden müssen, dass ein paar Idioten sich nicht impfen lassen. Weil wir mit diesen Idioten auf Intensiv zu tun haben, müssen wir uns dann impfen lassen und die nicht? Das ist doch unfair.“

Arzt

Das kann ich menschlich vollkommen nachvollziehen und denke, dass das auch einer der Gründe für zurückgehende Intensivkapazitäten ist. Übrigens müssen wir natürlich  gegen das Ausdünnen von Intensivkapazitäten arbeiten, aber das ist halt nicht kurzfristig und kaum mittelfristig machbar und deshalb kein akuter Lösungsansatz für die Pandemie… Dennoch komme ich am Ende zu der Erkenntnis, dass dieser erste Schritt für medizinisches Personal wohl notwendig ist, weil eben dort die meisten Kontakte zu vulnerablen Gruppen bestehen. Übrigens kann gerade bei einer hohen Anzahl milderer Verläufe auch durch die Impfung dort, die Gefahr der Überlastung des Gesundheitssystems durch Personalmangel reduziert werden.

Gleiches gilt aus meiner Sicht auch für die über 50-Jährigen, da sie selbst heute noch die Krankenhäuser heftiger belasten als die Jüngeren, wie die aktuelle Auslastung der Intensivbetten in der Grafik des Divi zeigt.

Quelle: Divi, 7.2.2022

Bei der allgemeinen Impfpflicht für alle über 18-Jährigen, würde ich – vor allem dank Omikron – heute sagen: Hoffentlich brauchen wir Sie nicht und wäre deshalb heute eher nicht dafür. Aber 100%ig ausschließen kann ich es leider immer noch nicht: Wenn eine neue Variante käme, die ähnlich schwerwiegend wäre wie Delta – nennen wir sie Sigma –, dann kann so etwas nötig werden. Um für einen solchen Fall gerüstet zu sein kann man sich aus meiner Sicht auch heute deshalb für eine allgemeine Impfpflicht ab 18 positionieren, wäre ich vor zwei Monaten auch noch gewesen. Ich bin aber heute da eher skeptischer geworden und bin eher für den gestuften Ansatz.


Was hieße das nun konkret für die Überlegungen im Deutschen Bundestag? Ich habe mir die Orientierungsdebatte auch mit unterschiedlichen Meinungen sehr genau angehört – am anstrengendsten fand ich dabei die CDU/CSU-Vertreter, die offensichtlich außer Parteitaktik noch keine inhaltliche Meinung hatten, was eher schwach wirkt, da hatte Katrin Helling-Plahr schon recht.

Ich finde die Argumentation von Konstantin Kuhle, Andrew Ullmann und anderen durchaus stichhaltig, dass man mit anderen Maßnahmen – gerade jetzt dank Omikron – anfangen kann und sollte:

Auch wenn dies natürlich keinerlei empirische Relevanz hat: Mir sind in den letzten zwei Monaten mindestens fünf Fälle bekannt, wo ein ausführlicheres Informationsgespräch – natürlich mit angemessener Bezahlung ähnlich der Impfung – eines Arztes dazu beitrug, Sorgen vor der Impfung zu zerstreuen.

Ich würde mir weiter eine Impfentscheidungspflicht als nächsten Schritt wünschen, bei dem dann wirklich jeder aktiv einen Termin absagen muss. Denn es gibt immer noch Leute, die es einfach vertrödeln, einen Termin zu machen.

Und wenn wir mit diesen Maßnahmen dann keine Impfquote erreichen, die auch bei einer Variante wie Delta unsere Intensivstationen für andere Patienten frei halten kann, dann brauchen wir eine Impfpflicht.

Zusammenfassend wäre ich von daher  für den Antrag mit einer altersbezogenen Abstufung und weiteren Maßnahmen, die ich oben genannt habe. Ich könnte mir aber durchaus auch den Antrag der Gruppe um Katrin Helling-Plahr und Marie-Agnes Strack-Zimmermann vorstellen, allerdings eher nach Vormaßnahmen, wie Entscheidungs- und Beratungspflicht, gerade weil wir über den Sommer etwas Zeit hätten.

Der andere Vorschlag der Gruppe um Wolfgang Kubicki überzeugt mich nicht, weil er aus meiner Sicht den Kernfehler der Großen Koalition und von Jens Spahn wiederholt: Er denkt nur bis in zwei Monaten und zeigt keine langfristigen Lösungsansätze auf. Richtig, im Sommer werden wir keine Impfpflicht brauchen, aber gerade, wenn man im Falle einer neuen Welle mit einer schärferen Mutante (siehe Delta) nicht wieder alles „zu“ machen will (mit immensen psychologischen, sozialen und volkswirtschaftlichen Schäden), muss man jetzt mehr machen als einfach nur „Weiter so“ und eine Kampagne.

Übrigens ist auch das Argument, man bräuchte ja Auffrischungsimpfungen, ein eher dünnes. Schaut mal in Euren Impfpass, es gibt wenig Impfungen, die nach dem ersten Schuss schon voll da sind Und gerade auch die neuen Erkenntnisse zeigen, dass nach Omikron eben keine Immunität vor Delta entsteht, so dass auch die Chance einer vollständigen Immunisierung und damit der Übergang in eine endemische Lage noch nicht gegeben sein dürfte.

Natürlich muss man dies im Falle neuer Impfstoffe, Varianten oder Medikamente ggf. neu prüfen.

Widerspricht das nicht den aktuellen Lockerungsdiskussionen?

Nein, aus meiner Sicht nicht. Dass Gruppen, die weniger Risiken auf einen schweren Verlauf haben (Schüler, Kindergartenkinder) sofort umfassende Lockerung haben können, ist doch nachvollziehbar.

Und ja, ich hoffe auch, dass wir vielleicht schon über Omikron, vielleicht auch erst mit Pi oder Rho in einen endemischen Pfad kommen. Aber da sind wir noch nicht. Und selbst falls im Herbst eine heftigere Variante wiederkäme, ist es natürlich sinnvoll, jetzt mit Blick auf den Frühling und das (hoffentlich bald kommende) mildere Wetter Maßnahmen zu lockern.

Vielleicht wird es dann aber auch eine Überraschung geben, die manchen Parteifreund und eher faktenbefreiten Öffnungsbefürworter (gibt davon auch ein paar in meiner Partei, leider gerade auch in der hessischen Landespolitik) hart treffen wird:

Der Abgeordnete, der glaubt, dass der Einzelhandel oder die Gastronomie wegen 2G, 2G plus oder 3G gerade Umsatzeinbußen hatte, sollte einfach mal bei Schumpeter (für die Kurzangebundenen hier auf Wikipedia)nachlesen, was eine Disruption ist.

Ich bin fest davon überzeugt, dass sich die Bedürfnisse der Menschen durch diese Pandemie geändert haben. Wir werden im Winter vorsichtiger sein und der Einzelhandel hat – ebenso wie die Gastro – gezeigt, wie manches rein stationäre Vor-Ort-Konzept am Markt nicht mehr ausreicht. Warum soll ich mich dem Risiko auch nur einer schnöden Erkältung aussetzen und (wie am Wochenende ausnahmsweise mal geschehen) durch zig Läden stapfen, um einen elektrisch betriebenen Rechaud zu finden? Hätte ich mehr Zeit gehabt, hätte ich den natürlich online bestellt, gerade weil ich dort mehr Auswahl und bessere Vergleichbarkeit gehabt hätte. So habe ich die Tour durch die Läden – anders als noch vor drei Jahren – als vollkommen nervtötend wahrgenommen.

Gleiches gilt in der Gastro: Meine Lieblings-Tapas Bar hat es bis heute nicht geschafft, ihre Karte online zu stellen. Wenn mein Wille als Kunde dort essen zu holen so wenig wertgeschätzt wird, warum soll ich es zwei Jahre in der Pandemie noch tun?

Deshalb, liebe Liberale, noch ein Schlusssatz: Lasst uns die aus dem Bedürfniswandel kommenden Veränderungen, die schon da sind – von Messen über Restaurants bis hin zum Einzelhandel – jetzt nicht mit tausenden Förderprogrammen zur Unterstützung einzelner Gruppen versuchen zu verzögern. Veränderung gehört dazu, auch wenn das manchem Konservativen oder Sozialdemokraten nicht gefällt. Liberale sollten keine Verwalter des Status Quo sein, sondern Innovationen mitprägen.

Auch deshalb sollten wir überlegen, wie wir einen Rahmen setzen, der nicht nur wie die GroKo bis zum nächsten Lanz-Auftritt des Gesundheitsministers (egal ob Spahn oder Lauterbach) denkt: Jetzt mit Maßnahmen zur Erhöhung der Impfquote starten (Aufklärung, Kampagne, Entscheidungspflicht), gegebenenfalls danach eine Impfpflicht einführen und trotzdem sinnvolle Lockerungen durchführen – das übrigens hatte auch unser Antrag (von mir und etwas über 50 Mitantragsstellerinnen) zum Bundesparteitag ähnlich gefordert.

Hinweis: Die Ergänzung „auf einen schweren Verlauf“ wurde im Nachhinein aufgrund einer Rückmeldung aufgenommen.